Das Findelhaus

Aufnahmezahlen

Während der Zeit seines 126-jährigen Bestehens nahm das Wiener Findelhaus rund 750.000 Kinder in Pflege. Beginnend mit 1366 Kindern im ersten Jahr, stieg die Auslastung stetig an; die 2000er-Marke wurde bereits 1787, die 3000er-Marke 1799 überschritten. Zwanzig Jahre später wurden mehr als 4000 und weitere zwanzig Jahre später mehr als 5000 Kinder jährlich aufgenommen. Die höchste Aufnahmezahl wurde im Jahr 1880 verzeichnet: 9820 Kinder wurden in diesem Jahr dem Findelhaus überlassen – durchschnittlich 27 Kinder täglich. Die stark zunehmende Frequenz wird als „Spiegelbild der deutlich voranschreitenden Pauperisierung der Wiener Bevölkerung“ gewertet.

   ► Aufnahme und Einteilung der Kinder

Aufnahme ins Findelhaus fanden hauptsächlich jene Kinder, die im Gebärhaus zur Welt gekommen waren. Mütter und Kinder wurden meistens am achten oder neunten Lebenstag des Kindes vom Gebärhaus "in einem geschlossenen Wagen in das Findelhaus überführt". Dort war Platz für 138 Ammen und mindestens 226 Säuglinge. Die Mütter mussten sich der Ammenwahl stellen, wobei Gesundheit, ausreichende Milchproduktion und eine gute körperliche Konstitution für die Wahl ausschlaggebend waren. Die Säuglinge wurden zunächst untersucht und mit einer laufenden Nummer, Name, Geburts- und Aufnahmedaten und Angaben zur Mutter (sofern sie nicht bezahlt hat) in das Anstaltsprotokoll eingetragen. Danach wurde ein Kopfzettel, auch Kindeszeichen genannt, ausgestellt. Das Kindeszeichen blieb immer beim Kind, auch wenn es in Pflege gegeben wurde. Zusätzlich bekam das Kind ein Band mit der Aufnahmenummer um das Armgelenk genäht. Die Mutter erhielt einen Empfangsschein, den sie vorweisen musste, wenn sie sich nach ihrem Kind erkundigen oder es zu sich nehmen wollte.

Ab 1867 wurden die Kinder auch gewogen, was eine differenziertere Einteilung der Kinder in kräftige, schwache, lebensschwache und Frühgeburten erlaubte als die bis dahin übliche Einstufung nach Augenschein. Diese Kategorisierung hatte großen Einfluss auf die Verweildauer der Kinder im Findelhaus, die in diesem Aufnahmeverfahren entschieden wurde.

Je nach Ergebnis bekamen die Kinder verschiedene Bezeichnungen:

Brustkinder 

Brustkinder waren die eigenen Kinder der ausgewählten Ammen, die von ihren Müttern drei bis vier Monate lang gestillt wurden.

Beileg- oder Nebenkinder

Beileg- oder Nebenkinder wurden einer Amme an die Brust gelegt. Sie kamen nach einer Nacht oder wenigen Tagen in Außenpflege, schwächliche Kinder konnten auch länger bleiben.

Nachtkinder 

Nachtkinder blieben nur wenige Stunden, oft nicht einmal eine Nacht, ehe sie einer Pflegemutter übergeben wurden. Zu dieser Gruppe gehörte die Mehrheit der Findelkinder.

Wasserkinder

Wasserkinder bezeichnete jene Kinder, die ansteckende Krankheiten, insbesondere Syphilis, hatten und wegen der Ansteckungsgefahr nicht von den Ammen gestillt werden durften. Sie legte man in die Wasserstuben, wo sie meistens nicht an ihren Krankheiten, sondern an der mit Wasser verdünnten Kuhmilch starben.

Eingezahlte Kinder

Als eingezahlte Kinder wurden Kinder bezeichnet, deren Mütter für die eigene Anonymität bezahlt hatten und so auch nicht als Ammen dienen mussten, außerdem musste auch für Kinder, die nicht im Gebärhaus zur Welt gekommen sind, eine Taxe bezahlt werden. Eingezahlte Kinder waren daher zugleich auch Beileg-, Nacht- oder Wasserkinder.

Täuschlinge

Täuschlinge waren keine Neugeborenen, sondern ältere Findelkinder, die von ihren Pflegeeltern zurückgebracht und für einige Tage im Findelhaus versorgt wurden. Anschließend kamen sie auf neue Pflegeplätze, es sei denn, sie hatten das Entlassungsalter erreicht. Nach Zahlen der 1850er- und 1860er-Jahre wurden jährlich durchschnittlich 860 Kinder von ihren Pflegeeltern zurückgebracht, wobei die Hälfte davon noch kein Jahr alt war.

Anfang der 1880er-Jahre entschlossen sich einige Kronländer, ihre Kinder zurückzunehmen, woraufhin hunderte Kinder von ihren Pflegestellen zurückgeholt und bis zur Weiterfahrt mit einem Sammeltransport im Findelhaus untergebracht wurden. Für Täuschlinge standen drei kleine Zimmer zur Verfügung, die mit Matratzen ausgelegt waren

Zeitweilige Kinder

Zeitweilige Kinder waren keine Findelkinder. Da in Wien keine andere Einrichtung existierte, an die Kinder im Fall von Krankheit, Tod oder Haft der Mutter übergeben werden konnten, wurde das Findelhaus in solchen Fällen auch zweckwidrig genutzt. Für diese, stets zeitlich befristeten Aufnahmen, mussten die Mütter nicht ledig sein. Anfangs kam es nur vereinzelt zu Aufnahmen zeitweiliger Kinder, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machten die zeitweiligen Kinder aber schon mehr als zehn Prozent der Gesamtzahl aus. Dies lag daran, dass heimatrechtlich nicht nach Niederösterreich zuständige Mütter in dieser Möglichkeit einen Weg fanden, ihre Kinder trotzdem im Findelhaus unterzubringen. waren keine Findelkinder. Da in Wien keine andere Einrichtung existierte, an die Kinder im Fall von Krankheit, Tod oder Haft der Mutter übergeben werden konnten, wurde das Findelhaus in solchen Fällen auch zweckwidrig genutzt. Für diese, stets zeitlich befristeten Aufnahmen, mussten die Mütter nicht ledig sein. Anfangs kam es nur vereinzelt zu Aufnahmen zeitweiliger Kinder, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machten die zeitweiligen Kinder aber schon mehr als zehn Prozent der Gesamtzahl aus. Dies lag daran, dass heimatrechtlich nicht nach Niederösterreich zuständige Mütter in dieser Möglichkeit einen Weg fanden, ihre Kinder trotzdem im Findelhaus unterzubringen.

Für ältere Täuschlinge und zeitweilige Kinder stand im Haus ein Lehrer zur Verfügung, der aber nur die Buben unterrichtete. Mädchen besuchten die Gemeindeschule. Von den 1830er-Jahren bis 1843 existierte zudem eine Zweigstelle des Findelhauses im Versorgungshaus am Alserbach, in der männliche Täuschlinge untergebracht wurden.

   ► Klima im Findelhaus

Im Findelhaus herrschte eine unmenschlich rohe und laute Atmosphäre, geprägt von Streitereien unter den Ammen sowie von derben Beschimpfungen und grober Behandlung durch die Wärterinnen. Frauen, die ihre Verpflichtung, als Amme zu dienen, nur ungern erfüllten, behandelten ihre Nebenkinder lieblos.

Ärzte der medizinischen Fakultät der Universität Wien stellten 1811 anlässlich einer Inspektion eine erschreckende "Verderbniss der Luft" fest. 

... eine erschreckende "Verderbniss der Luft"

Schmutzige Windeln, zum Trocknen aufgehängte Wäsche und mangelnde Hygiene trugen dazu ebenso bei wie die Tatsache, dass bis in die 1890er-Jahre Fenster und Türen der Leichenkammer auf den Hauptgang gerichtet waren. Dagegen half auch nicht die aus Angst vor Miasmen getroffene Regelung, dass pro Raum stets ein Fenster geöffnet sein musste.

Das Findelhaus war stark von außen frequentiert:

Es kamen Pflegefrauen, die sich täglich zur Übernahme von Findelkindern anstellten, Kinder zurückbrachten oder sich bei der Auszahlungskassa Pflegegelder auszahlen zu ließen, Familien, die nach Privatammen suchten, Familien, die ihre Kinder impfen lassen wollten, und, wenn auch nicht allzu häufig, Besuche für die Ammen. Bis 1839 durften auch noch Kinder, die auf dem Weg vom Findelhaus in das Haus der Pflegeeltern verstorben waren, ins Findelhaus zurückgebracht werden. Auch der Leichenträger kam ab den 1890er-Jahren zweimal täglich, um die verstorbenen Kinder abzuholen und zur Leichenbeschau und Obduktion in das Allgemeine Krankenhaus zu bringen. Bis dahin wurden die verstorbenen Kinder im Findelhaus seziert. Auch Mütter von Findelkindern kamen, um nach dem Verbleib ihrer Kinder zu fragen. Die Administration, die anfangs aus dem Anstaltsleiter, dem "Gegenhändler" und zwei Amtsschreibern, später aus 29 Männern bestand, war ebenfalls im Haus untergebracht.

Krankheitsausbreitung durch extreme Raumnot

Durch die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts extreme Raumnot konnten sich Krankheiten leicht ausbreiten.

Die Gonoblennorrhoe war im Findelhaus endemisch und führte 1855 zu einer Epidemie, bei der sowohl die Neugeborenen und etwa hundert Täuschlinge, als auch Wärterinnen, Näherinnen und der Anstaltsleiter infiziert waren. Die Epidemie dauerte bis 1857 an. Zur Einrichtung einer Station für augenkranke Kinder kam es erst in den 1880er-Jahren, daraufhin konnte die Krankheit eingedämmt werden.

Die Platznot im Findelhaus veranlasste die Wissenschaft, immer wieder auf die Lebensbedrohlichkeit für die Säuglinge hinzuweisen. Eine möglichst rasche Abgabe der Kinder auf Pflegeplätze wurde daher angestrebt, um deren Überlebenschancen zu erhöhen.

   ► Die Ammen

Anders als im Gebärhaus mussten die im Findelhaus als Ammen dienenden Mütter Anstaltskleidung tragen. In den Ammensälen stand für jede Frau ein Bett bereit, zu dessen linker und rechter Seite jeweils ein Säuglingsbett. Kinderbetten mit geraden Nummern waren für die Kinder der Ammen gedacht, jene mit ungeraden Nummern für die Beileg- oder Nebenkinder. Ein großer Tisch in der Mitte des Zimmers diente sowohl als Wickeltisch als auch den Ammen als Esstisch. Für ihre Dienste bekamen sie einen geringen Ammenlohn. Fallweise kam es auch vor, dass eine Amme zwei, drei oder sogar vier Kinder neben ihrem eigenen versorgen musste. Das war etwa dann der Fall, wenn im Winter witterungsbedingt die vom Land kommenden Pflegefrauen ausblieben.

Die Findelhauswärterinnen waren vorrangig damit beschäftigt, die Einhaltung der Hausordnung zu kontrollieren. Die Ammen durften das Haus nur verlassen, wenn sie eine Ausgangsbewilligung hatten und eine Wärterin sie begleitete. Auch im Areal durften sie sich nicht frei bewegen und Besuche durften sie nur sonn- und feiertags empfangen. Laut der "Instruction für die Aufseherin" aus dem Jahr 1816 hatten diese darauf zu achten, dass die Ammen "an den Fenstern keine Gespräche mit Mannsbildern führen, daß sie nicht lärmen, schreien, oder übermüthig singen, daß sie ihr Morgen-, Abend- und Tischgebet laut und auferbaulich verrichten". Kontrolliert wurde auch das Stillen, insbesondere, dass keine Amme ihr Nebenkind gegenüber dem eigenen benachteiligt. Neben dem Stillen und der Säuglingspflege waren die Frauen wie im Gebärhaus zu diversen Arbeiten im Haus verpflichtet, die vorwiegend aus Reinigungsarbeiten bestanden. Ihr streng geregelter Tag begann um vier Uhr in der Früh.

Ammenzwang

Die Frauen waren über ihre Wahl als Amme zumeist unglücklich, sie bezeichneten den Dienst als "Ammenzwang" und versuchten mit verschiedenen Tricks, sich diesem zu entziehen.

Beispielsweise legten sie ihr Neugeborenes schon in der Gebäranstalt immer an dieselbe Brust an, wodurch die andere zu wenig Milch bildete, um als Amme zu dienen. Als Reaktion auf die Wahl zur Amme gab es in den 1890er-Jahren aber auch einen Selbstmordversuch und eine Mutter, die ihr Kind tötete. Trotz aller Kontrolle und Funktionalisierung der Mütter durch das Findelhaus kann jedoch nicht von einer Totalen Institution im Sinne von Erving Goffman gesprochen werden, da die Frauen nur befristet auf vier Monate als Ammen zur Verfügung stehen mussten.

Als Ansporn bekamen die Frauen zu den Mahlzeiten Bier ‒ insgesamt 1,7 Liter pro Tag. Zwar wusste man um die nachteilige Wirkung für die Kinder, wenn stillende Frauen Alkohol konsumieren, jedoch hielt man das Bier als Motivationsmittel für unerlässlich. 1904 wurde die Menge auf 0,6 Liter reduziert.

Das System des "Ammenzwangs" war auch unter Ärzten umstritten. Friedrich Benjamin Osiander, der Anfang des 19. Jahrhunderts in der Findelanstalt zu Besuch war, und Carl Friedinger, späterer Direktor des Findelhauses, warnten davor, dass die Kinder zu ihrem Gedeihen nicht nur Muttermilch brauchen, sondern auch Zuwendung, die aber von Frauen, die sich inmitten der Stadt eingesperrt und unglücklich fühlten, nicht zu erwarten sei. Carl Friedinger war es deshalb besonders wichtig, dass die Kinder möglichst schnell an Pflegefrauen abgegeben werden.

Säugammeninstitut

Frauen, die den Ammendienst hinter sich gebracht hatten, wurden häufig als Privatammen weitervermittelt. Das war bereits seit der Errichtung des Findelhauses üblich, im Jahr 1801 wurde schließlich das Säugammeninstitut gegründet.

Die Ammen wurden ärztlich untersucht und das Institut warb damit, "reine, gesunde Ammen" zu vermitteln. Gleichzeitig wurde gewarnt, keine Amme aufzunehmen, deren Gesundheitszeugnis älter als drei Tage war. Es wurde auch eine zweiwöchige Garantie für die Tauglichkeit der Amme gegeben. Verlor die Amme während dieser Zeit ihre Milch, war das Institut verpflichtet, eine andere Amme zu schicken. Wurde sie hingegen vertragsbrüchig, wurde sie mit der Entlassung ihres Kindes aus dem Findelhaus bestraft.

Es sollte eine Monopolstellung erreicht und die privaten "Ammenzubringerinnen" verdrängt werden. Doch das konnte ‒ trotz politischer Maßnahmen wie der Verpflichtung zu ärztlichen Untersuchungen im Findelhaus auch für private Ammen ‒ nie erreicht werden.

Zwischen 1863 und 1872 stellte das Säugammeninstitut 40 % aller Hausammen, 1897 waren es nur noch 10 %. Zugleich verlor gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Ammenwesen erheblich an Bedeutung: Die Pasteurisierung von Milch wurde möglich und die ersten Surrogate für Säuglingsnahrung kamen auf den Markt.


Entlassung aus der Versorgung durch das Findelhaus

Mit dem Erreichen des "Normalalters" endete für die Kinder die Versorgung durch das Findelhaus. Anlässlich dieses Ereignisses erhielten sie noch einmal dem Alter entsprechende Bekleidung und Schuhe. Das Normalalter lag anfangs bei fünfzehn Jahren, die Kinder waren also mehr oder weniger erwachsen und konnten unter den ihnen gebotenen Möglichkeiten ihren weiteren Lebensweg wählen. Sofern sie nicht vorher gestorben sind, denn dieses Alter erreichten bis 1806 nur fünf Prozent der Findelkinder.

Das Normalalter wurde 1805 auf zwölf und 1829 auf zehn Jahre herabgesetzt.

Danach wurden sie entweder ihrer leiblichen Mutter zurückgegeben, blieben bei den Pflegeeltern oder sie wurden an die kommunale Armenversorgung abgegeben. Kamen sie zu ihren leiblichen Müttern, hing ihr weiteres Wohlergehen sehr davon ab, ob die Mütter bisher mit ihren Kindern in Kontakt geblieben sind oder ob sie einander fremd waren.

Kinder-Schutz- und Rettungsgesellschaft

In den Jahresberichten der 1899 von Lydia von Wolfring gegründeten Kinder-Schutz- und Rettungsgesellschaft finden sich immer wieder Fälle, die eine solche Entfremdung in Form von Misshandlungen deutlich machen, und auch am 1907 abgehaltenen ersten österreichischen Kinderschutzkongress war die "Entfremdung der Findelkinder" eines der Themen.

Blieben die Kinder bei den Pflegeeltern, so hatten diese das Recht, sie bis zu ihrem 22. Lebensjahr für diverse Arbeiten wie Feld- oder Hausarbeit zu verwenden. Dabei bekamen jüngere Kinder noch leichtere Aufgaben, ab ihrem 13. Lebensjahr mussten die meisten wie Erwachsene arbeiten.

Eine Statistik darüber, wie viele Kinder bei ihren Pflegeeltern blieben und wie viele zu ihren Müttern kamen, wurde nicht geführt, es liegen nur vereinzelte Zahlen vor. Rückholungen durch die eigenen Eltern waren seit 1829 ohne Entschädigungszahlungen möglich.

Für die Armenkinderversorgung war ‒ außer, es handelte sich um eingezahlte Kinder ‒ die Heimatgemeinde der Mutter zuständig, auch wenn diese schon lange nicht mehr dort lebte. Die Kinder wurden von den Pflegeeltern in das Findelhaus zurückgebracht und von dort entweder durch die Heimatgemeinde abgeholt oder per behördlichem "Wiener Schub" in die jeweilige Gemeinde überstellt.

Darüber, wem sie letztendlich übergeben wurden, gibt es keine Aufzeichnungen, im Findelhaus wurde bloß "normalalt ab" vermerkt. Die Forschung nimmt jedoch an, dass sie ihr Leben in der ländlichen Unterschicht oder im städtischen Proletariat verbrachten, konfrontiert mit den gegen sie gerichteten Vorurteilen.

"Wiener Schub"

Dafür mussten sie die Nacht vor dem Transport im Wiener Polizeihaus verbringen. Die Praxis, zehnjährige Kinder "gemeinschaftlich mit Vagabunden und Schüblingen" unterzubringen, wurde erstmals 1874 vom Findelhausdirektor Carl Friedinger kritisiert, nachdem er bei einem Besuch im Polizeihaus Findelkinder in Gesellschaft von Dirnen sah.

Der niederösterreichische Landtag musste in seinen Untersuchungen feststellen, dass es hauptsächlich nach Niederösterreich zuständige Kinder waren, die per Schub transportiert wurden, während etwa ungarische Kinder meistens von Verwandten abgeholt wurden. Noch im selben Jahr wurde daher verordnet, dass Delegierte der Heimatgemeinden die Kinder abholen mussten. Nach Böhmen wurden sie ab 1891 in Gruppen verschickt.


Das Ende des Findelhauses

In den 1860er-Jahren entbrannte der sogenannte Findelhausstreit, bei dem Gelehrte über den Sinn der Anstalt (und der Findelhäuser überhaupt) diskutierten. Die Befürworter fanden nicht das System an sich schlecht, sondern lediglich dessen Organisation. Sie waren der Ansicht, eine Reform ‒ weg vom Stempel der Anonymität, hin zu mehr Schutz und Wahrung der den Kindern im ABGB zugestandenen Rechte, könnte die Probleme lösen. Die Gegner propagierten das Konzept der Mutterliebe, die von selbst erwachen würde, ermöglichte man den Müttern, ihre Kinder selbst zu betreuen.

Die Diskussion verebbte in den 1870er-Jahren, nachdem einige Anstalten anderer Städte geschlossen wurden. In Wien wurde ab 1870 die Möglichkeit gefördert, den Müttern ihre Kinder selbst in Pflege zu geben.

Erneut entstand eine Diskussion in den 1880er-Jahren, diese entbrannte jedoch an den Fragen Mortalität und Finanzierbarkeit.

Das Niederösterreichische Landes-Zentralkinderheim wurde am 20. April 1910 in Gersthof eröffnet und zugleich das Findelhaus in Wien geschlossen.

Neuinterpretation des Findelwesens

Das Findelwesen sah man nun immer mehr zum Bereich der Armenfürsorge gehörend, da der einzige Grund für die Abgabe der Kinder die Armut der Mütter war. Ein eigenes Kinderschutzgesetz, eine generelle Regelung der Armenkinderfürsorge und neue Institutionen, wie Kinderasyle, -bewahranstalten und -krippen wurden diskutiert und gefordert.

In Wien kam es ab 1898 zu schrittweisen Reformen, deren Umsetzung bis 1907 dauerte. Diese Reformen waren zunächst die Trennung der Gebär- von der Findelanstalt, das Ende der Anonymität, neue, auf tatsächliche Armut statt auf Unehelichkeit ausgerichtete Aufnahmebedingungen, Förderung des Kontaktes zwischen Mutter und Kind, Verpflichtung der Kindesväter zur Alimentationsleistung, wofür 1907 eine Rechtsschutzabteilung eingerichtet wurde, ein Neubau sowie die Neuorganisation der Kinderfürsorge im Allgemeinen und die Vorbereitung eines Kinderschutzgesetzes.

Bei der Grundsteinlegung für den Neubau im Jahr 1908 wurde auch die Namensänderung für die neue Institution beschlossen. Mit dem Verschwinden der Begriffe Findelanstalt und Findelkind wollte man gleichzeitig den diesen Kindern lebenslang anhaftenden Makel beseitigen. Der Beschluss des Statuts für das neu zu gründende Niederösterreichische Landes-Zentralkinderheim erfolgte 1909/1910 und war der Abschluss der 1898 begonnenen Reformierung des Findelkindersystems. Dessen Zweck war nun der Schutz „bedürftiger Kinder, die der elterlichen Fürsorge dauernd oder vorübergehend entbehren“ mussten, aber auch „die in der Landesgebäranstalt in Wien geborenen außerehelichen Kinder […] aufzunehmen“.


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