Das Findelhaus
► Aufnahme und Einteilung der Kinder
Aufnahme ins Findelhaus fanden hauptsächlich jene Kinder, die im Gebärhaus zur Welt gekommen waren. Mütter und Kinder wurden meistens am achten oder neunten Lebenstag des Kindes vom Gebärhaus "in einem geschlossenen Wagen in das Findelhaus überführt". Dort war Platz für 138 Ammen und mindestens 226 Säuglinge. Die Mütter mussten sich der Ammenwahl stellen, wobei Gesundheit, ausreichende Milchproduktion und eine gute körperliche Konstitution für die Wahl ausschlaggebend waren. Die Säuglinge wurden zunächst untersucht und mit einer laufenden Nummer, Name, Geburts- und Aufnahmedaten und Angaben zur Mutter (sofern sie nicht bezahlt hat) in das Anstaltsprotokoll eingetragen. Danach wurde ein Kopfzettel, auch Kindeszeichen genannt, ausgestellt. Das Kindeszeichen blieb immer beim Kind, auch wenn es in Pflege gegeben wurde. Zusätzlich bekam das Kind ein Band mit der Aufnahmenummer um das Armgelenk genäht. Die Mutter erhielt einen Empfangsschein, den sie vorweisen musste, wenn sie sich nach ihrem Kind erkundigen oder es zu sich nehmen wollte.
Ab 1867 wurden die Kinder auch gewogen, was eine differenziertere Einteilung der Kinder in kräftige, schwache, lebensschwache und Frühgeburten erlaubte als die bis dahin übliche Einstufung nach Augenschein. Diese Kategorisierung hatte großen Einfluss auf die Verweildauer der Kinder im Findelhaus, die in diesem Aufnahmeverfahren entschieden wurde.
Je nach Ergebnis bekamen die Kinder verschiedene Bezeichnungen:
Für ältere Täuschlinge und zeitweilige Kinder stand im Haus ein Lehrer zur Verfügung, der aber nur die Buben unterrichtete. Mädchen besuchten die Gemeindeschule. Von den 1830er-Jahren bis 1843 existierte zudem eine Zweigstelle des Findelhauses im Versorgungshaus am Alserbach, in der männliche Täuschlinge untergebracht wurden.
► Klima im Findelhaus
Im Findelhaus herrschte eine unmenschlich rohe und laute Atmosphäre, geprägt von Streitereien unter den Ammen sowie von derben Beschimpfungen und grober Behandlung durch die Wärterinnen. Frauen, die ihre Verpflichtung, als Amme zu dienen, nur ungern erfüllten, behandelten ihre Nebenkinder lieblos.
Ärzte der medizinischen Fakultät der Universität Wien stellten 1811 anlässlich einer Inspektion eine erschreckende "Verderbniss der Luft" fest.
Die Platznot im Findelhaus veranlasste die Wissenschaft, immer wieder auf die Lebensbedrohlichkeit für die Säuglinge hinzuweisen. Eine möglichst rasche Abgabe der Kinder auf Pflegeplätze wurde daher angestrebt, um deren Überlebenschancen zu erhöhen.
► Die Ammen
Anders als im Gebärhaus mussten die im Findelhaus als Ammen dienenden Mütter Anstaltskleidung tragen. In den Ammensälen stand für jede Frau ein Bett bereit, zu dessen linker und rechter Seite jeweils ein Säuglingsbett. Kinderbetten mit geraden Nummern waren für die Kinder der Ammen gedacht, jene mit ungeraden Nummern für die Beileg- oder Nebenkinder. Ein großer Tisch in der Mitte des Zimmers diente sowohl als Wickeltisch als auch den Ammen als Esstisch. Für ihre Dienste bekamen sie einen geringen Ammenlohn. Fallweise kam es auch vor, dass eine Amme zwei, drei oder sogar vier Kinder neben ihrem eigenen versorgen musste. Das war etwa dann der Fall, wenn im Winter witterungsbedingt die vom Land kommenden Pflegefrauen ausblieben.
Die Findelhauswärterinnen waren vorrangig damit beschäftigt, die Einhaltung der Hausordnung zu kontrollieren. Die Ammen durften das Haus nur verlassen, wenn sie eine Ausgangsbewilligung hatten und eine Wärterin sie begleitete. Auch im Areal durften sie sich nicht frei bewegen und Besuche durften sie nur sonn- und feiertags empfangen. Laut der "Instruction für die Aufseherin" aus dem Jahr 1816 hatten diese darauf zu achten, dass die Ammen "an den Fenstern keine Gespräche mit Mannsbildern führen, daß sie nicht lärmen, schreien, oder übermüthig singen, daß sie ihr Morgen-, Abend- und Tischgebet laut und auferbaulich verrichten". Kontrolliert wurde auch das Stillen, insbesondere, dass keine Amme ihr Nebenkind gegenüber dem eigenen benachteiligt. Neben dem Stillen und der Säuglingspflege waren die Frauen wie im Gebärhaus zu diversen Arbeiten im Haus verpflichtet, die vorwiegend aus Reinigungsarbeiten bestanden. Ihr streng geregelter Tag begann um vier Uhr in der Früh.
Entlassung aus der Versorgung durch das Findelhaus
Mit dem Erreichen des "Normalalters" endete für die Kinder die Versorgung durch das Findelhaus. Anlässlich dieses Ereignisses erhielten sie noch einmal dem Alter entsprechende Bekleidung und Schuhe. Das Normalalter lag anfangs bei fünfzehn Jahren, die Kinder waren also mehr oder weniger erwachsen und konnten unter den ihnen gebotenen Möglichkeiten ihren weiteren Lebensweg wählen. Sofern sie nicht vorher gestorben sind, denn dieses Alter erreichten bis 1806 nur fünf Prozent der Findelkinder.
Das Normalalter wurde 1805 auf zwölf und 1829 auf zehn Jahre herabgesetzt.
Danach wurden sie entweder ihrer leiblichen Mutter zurückgegeben, blieben bei den Pflegeeltern oder sie wurden an die kommunale Armenversorgung abgegeben. Kamen sie zu ihren leiblichen Müttern, hing ihr weiteres Wohlergehen sehr davon ab, ob die Mütter bisher mit ihren Kindern in Kontakt geblieben sind oder ob sie einander fremd waren.
Für die Armenkinderversorgung war ‒ außer, es handelte sich um eingezahlte Kinder ‒ die Heimatgemeinde der Mutter zuständig, auch wenn diese schon lange nicht mehr dort lebte. Die Kinder wurden von den Pflegeeltern in das Findelhaus zurückgebracht und von dort entweder durch die Heimatgemeinde abgeholt oder per behördlichem "Wiener Schub" in die jeweilige Gemeinde überstellt.
Darüber, wem sie letztendlich übergeben wurden, gibt es keine Aufzeichnungen, im Findelhaus wurde bloß "normalalt ab" vermerkt. Die Forschung nimmt jedoch an, dass sie ihr Leben in der ländlichen Unterschicht oder im städtischen Proletariat verbrachten, konfrontiert mit den gegen sie gerichteten Vorurteilen.
Das Ende des Findelhauses
In den 1860er-Jahren entbrannte der sogenannte Findelhausstreit, bei dem Gelehrte über den Sinn der Anstalt (und der Findelhäuser überhaupt) diskutierten. Die Befürworter fanden nicht das System an sich schlecht, sondern lediglich dessen Organisation. Sie waren der Ansicht, eine Reform ‒ weg vom Stempel der Anonymität, hin zu mehr Schutz und Wahrung der den Kindern im ABGB zugestandenen Rechte, könnte die Probleme lösen. Die Gegner propagierten das Konzept der Mutterliebe, die von selbst erwachen würde, ermöglichte man den Müttern, ihre Kinder selbst zu betreuen.
Die Diskussion verebbte in den 1870er-Jahren, nachdem einige Anstalten anderer Städte geschlossen wurden. In Wien wurde ab 1870 die Möglichkeit gefördert, den Müttern ihre Kinder selbst in Pflege zu geben.
Erneut entstand eine Diskussion in den 1880er-Jahren, diese entbrannte jedoch an den Fragen Mortalität und Finanzierbarkeit.
Das Niederösterreichische Landes-Zentralkinderheim wurde am 20. April 1910 in Gersthof eröffnet und zugleich das Findelhaus in Wien geschlossen.
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